Das ist die Geschichte vom Burgstaller Irg. Er wuchs auf einem der letzten Höfe in Heiligenblut auf. Seine Mutter kannte er nicht. Sie wollte gerade mit dem Irg-Baby in die Möll gehen, als die Burgstallerin das sah und sagte: Gib mir das Baby, dann kannst gehen, wennst willst.
So kam der Irg zum Burgstallerhof. Mit 5 wurde er zum Schäfer. Die Weiden lagen weit hinten auf den Basterzen, wie die Gegend damals hieß. Unterm Burgstallerfelsen war ein See, und dahinter waren die Weiden. Es waren auch Goldgröber in der Gegend. Saftige Wiesen, ein paar Wälder, Sennhütten und die Bergwerkssiedlungen. Man könnte es idyllisch nennen, wäre das Leben nicht sehr hart gewesen im Mittelalter.
Er war mittlerweile 31 Jahre alt, und nach damaligen Verhältnissen wurde er ein alter Mann, aber das wusste er nicht.
Seit ein paar Jahren wohnte Irg das ganze Jahr in der kleinen Steinhütte, die er selbst unter einem riesigen Felsblock aufgebaut hatte. Darin war auch ein kleiner Ofen, aus Stein, den er sich hergerichtet hatte. Er hatte gelernt, Käse zu machen, Fleisch zu konservieren, Murmeltiere und Füchse zu fangen und die nahen Wälder gaben genügend Holz her, um den Winter zu überstehen. Das war ihm lieber als unten im Hof. Was sollte er auch dort, heiraten konnte er sowieso nicht und dort herrschte obendrein jeden Winter Hunger.
So kam der nächste Herbst, man schrieb das Jahr 1045. Irg hatte das Vieh hinuntergetrieben und trug eine Kraxe mit Salz, das er fürs Hüten bekommen hatte. Das Wetter war lange schlecht gewesen, aber er hatte genügend Vorräte für den Winter.
Es begann zu schneien. Es schneite wie schon lange nicht mehr. An den Vorräten und am Holz erkannte Irg, dass es bald Frühling werden musste. Aber es schneite weiter. Es war kalt. Die Tage wurden länger, es ging auf die Sommersonnenwende hin, als Irg die Vorräte ausgingen und das Holz war alle.
Anstatt der Sonne kam der Schnee.
Die Hütte war gut geschützt, etwas erhöht, aber Irg sah, wie der Schnee die Fenster bedeckte. Es sollte längst Sommer sein.
Aber der kam nicht.
Dieses Jahr 1046 sollte als „Das Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte eingehen.
In Heiligenblut gab es eine Hungersnot, alle vom Burgstallerhof starben.
Auch Irg starb in seiner Hütte.
Er erlebte nicht mehr, wie plötzlich die Gletscher begannen, vorzustoßen, sie kamen auf den Pasterzenboden, vereinten sich, schoben alles vor sich her, auch den riesigen Felsblock mitsamt der Hütte. Almen, Hütten, Wiesen, Bergwerke, Wälder, alles wurde wegradiert und plattgemacht.
Diese Verwüstungen gab es in den gesamten Alpen. Fürchterlich erwischte es das Ötztal, wo ganz hinten ein Gletscher seitlich ins Tal kroch und einen Stausee bildete, der bald durchbrach und das Ötztal verwüstete.
Es war das Ende des langandauernden warmen Klimas, das den Menschen so viel Segen gebracht hatte.
Es war eine schreckliche, entsetzliche Klimakatastrophe.